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Als meine Mutter sich für die Medikation mit Ritalin entschied

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Ach, der will ja nur Aufmerksamkeit"
"Habt ihr ihn falsch ernährt? Zu viel Süßigkeiten!"
"Du kümmerst dich halt nicht genug um ihn"
"Falsch erzogen!"
"Das gibt's doch gar nicht wirklich"
"Ach was, Modekrankheit! Ihr seid nur zu faul!"

Das sind Sprüche von Menschen, die keine Ahnung haben und sich keine Gedanken machen, wie diese bei den Betroffenen ankommt. ADS/ADHS gibt es - und nicht erst seit gestern. Es ist keine "Modekrankheit". ADS/ADHS wurde schon viel früher entdeckt als zum Beispiel AIDS. Meiner Mutter - und auch mir - begegnen die oben genannten Aussagen seit vielen Jahren. Diese und viele andere, die ähnlich klingen. Mein Bruder, 24, hat ADHS, und wir als Familie waren davon alle betroffen. Denn ADHS hat nur das eine Kind, aber es verändert die gesamte Familiendynamik, den Alltag und ein bisschen auch unser aller Leben.

So lange ich zurückdenken kann, war mein Bruder sehr aktiv. Er war immer auf Achse, stand ständig unter Strom, war oft sogar aggressiv. Wir haben nie ein Brettspiel zu Ende gespielt, er hat sich nie lang für etwas interessiert, es war ständig etwas anderes interessant. Er hat viel Unsinn angestellt und wir Kinder haben uns auch oft geprügelt. Damals vermuteten wir schon, dass etwas nicht stimmt, nicht "normal" ist, aber da uns ADHS zu dem Zeitpunkt noch nicht bekannt war, wussten wir auch nicht, wohin wir uns wenden sollten. Und vielleicht, dachten wir, war es ja doch ganz normal und wir machten uns bloß zu viele Gedanken. Bis mein Bruder eingeschult wurde und sich alles noch mal verschlimmerte.

In der Schule war es ähnlich wie zuhause, nur ohne Prügeleien und Unsinn. Er konnte nicht lange dem Unterricht folgen, stand mittendrin einfach auf und schaute aus dem Fenster. Er malte Bilder, anstatt das zu tun, was die Lehrerin sagte. Die Hausaufgaben zu machen war ein einziger K(r)ampf. Zu diesem Zeitpunkt wurde uns geraten, einen Facharzt aufzusuchen. Nach einigen Untersuchungen und Tests gab es eine Diagnose: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Kurz ADHS. Es hatte nun also einen Namen.

So eine Diagnose ist immer ein zweischneidiges Schwert. Es ist einerseits schön, endlich zu wissen, womit man es zu tun hat, damit man dagegen gezielt etwas tun, das Kind unterstützen kann. Aber es macht andererseits das Leben nicht leichter. Man steht vor vielen, schwierigen Entscheidungen, vielen Terminen mit Ärzten, Logopäden, Ergotherapeuten, Lernhilfen. Dazu noch Arbeit und andere Verpflichtungen. Und obendrauf kommen dann noch dumme Sprüche und Vorurteile - anstatt Unterstützung und Verständnis. Denn die Mehrheit der Menschen denkt genau das, was ich eingangs geschrieben habe. Auch in unserer Familie haben 90 Prozent der Verwandten so reagiert.

Als meine Mutter sich für die Medikation mit Ritalin entschied, und mein Bruder dafür in eine Klinik musste, um korrekt auf das Medikament eingestellt zu werden, beschimpfte meine Oma sie als Rabenmutter und warf ihr vor, sie würde ihr Kind einfach abschieben. Meiner Mutter ist diese Entscheidung nicht leicht gefallen, und ich kann mir, inzwischen selbst Mutter, sehr gut vorstellen, wie schwer ihr Mutterherz gewesen sein muss, als sie ohne meinen Bruder von der Klinik zurückkam. Und dann macht man ihr obendrein solche Vorwürfe.

Meine Mutter hat es sich nie leicht gemacht, keine Entscheidung seit der Diagnose wurde ohne gründliche Überlegung getroffen. Meine Mutter hat viel gekämpft. Eigentlich ständig. Für ein besseres Medikament, für eine andere Schule, gegen Vorurteile und Beleidigungen.....

http://www.brigitte.de/frauen/stimmen/adhs-1223262/?noMobileRedirect=1

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